Paris am 15.06.1998

gau. Für die meisten Europäer ist mit dem Begriff "Afrika" alles gesagt. Afrika, das steht für Chaos, Korruption, Hunger, Bürgerkrieg. Und afrikanische Fußballspieler sind Ballzauberer, die in taktischer Hinsicht noch auf dem Niveau von Schülermannschaften verharren. Denn sonst, da sind sich die selbsternannten Experten einig, sonst müßte der nächste Weltmeister eigentlich vom "Schwarzen Kontinent" kommen.

Bezeichnend für diese weitverbreitete Meinung war, wie ZDF-Mitarbeiter Rudi Cerne die Mannschaft von Marokko vor dem ersten WM-Spiel in Montpellier vorstellte. "Mit Mann und Maus stürmen" wollten Quakili (bei 1860 München unter Vertrag) und seine Kollegen am liebsten, da war sich Cerne sicher. Der gute Mann hatte offensichtlich nicht mitbekommen, daß die Marokkaner bei den Afrikameisterschaften in Burkina Faso zwar schon im Viertelfinale die Segel streichen mußten, aber unbestritten die Mannschaft mit der größten taktischen Disziplin waren.

"Marokko spielt europäischer als alle afrikanischen Mannschaften", urteilt einer, der es wissen muß. George Weah nämlich, Europas, Afrikas und Welt-Fußballspieler des Jahres 1995, der das Pech hat, in Liberia geboren zu sein. Einem vom Bürgerkrieg zerrütteten Staat mit 2,5 Millionen Einwohnern, der eigentlich nur noch auf der Landkarte existiert und auch mit Hilfe des Geldes von George Weah keine Fußballmannschaft von Qualität stellen kann. Deshalb wird Afrikas größter Fußballspieler des vergangenen Jahrzehnts nie in den Genuß kommen, sein Können auf höchster Ebene zu präsentieren.

Weah und Liberia, das ist so, als ob Franz Beckenbauer in Luxemburg geboren worden wäre und dort um die WM-Teilnahme seiner Nationalmannschaft gekämpft hätte. Immerhin, auf Weah wird gehört, auch außerhalb Afrikas. Also wird manchem vielleicht zu denken geben, wenn der liberianische Stürmer vom tunesischen WM-Team als einem "außergewöhnlichen Kollektiv" redet, einer "sehr gut organisierten Mannschaft".

Was Weah nicht ausspricht: Tunesien und Marokko, das ist ein bißchen wie Schottland, Belgien oder Ungarn. Für jeden ein unangenehmer Gegner, aber doch nie in der Lage, den ganz großen Coup zu landen.

Das interessiert die meisten Fans zwischen Kairo und Kapstadt aber auch nur beiläufig. Denn Afrika fängt für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung erst südlich der Sahara an. In den Maghreb-Staaten und Ägypten leben für die Menschen aus Ghana, Kenia oder Sambia Araber, aber keine Afrikaner. Also warteten sie gebannt auf den Auftritt der "Unbezähmbaren Löwen" aus Kamerun, das gegen Österreich immerhin ein 1:1 erreichte, sie fieberten dem Auftaktspiel der "Bafana Bafana" aus Südafrika gegen Frankreich entgegen und waren gespannt darauf, ob Afrikas größter Stolz, die "Super-Adler" aus Nigeria, ihre Krise überwunden haben.

Haben sie - das 3:2 gegen Spanien, einen der oft genannten möglichen Turniersieger, spricht für sich. Mit Südafrika, das noch enttäuschte, und den Siegern aus Nigeria sind auch gleich die zwei Mannschaften genannt, bei denen zwar immer drin ist, daß sie nach erbärmlichen Vorstellungen in der Vorrunde wieder nach Hause fliegen müssen, die aber andererseits über das fußballerische Potential verfügen, die Vormachtstellung der südafrikanischen und europäischen Nationalmannschaften in Frage zu stellen.

So wie es 1990 fast passierte, als Kamerun im Viertelfinale erst in der Verlängerung an England scheiterte. Oder vier Jahre später, als Nigeria ebenfalls im Viertelfinale als klar bessere Mannschaft gegen den späteren Turnierzweiten Italien den kürzeren zog.

Längst Geschichte, in Kamerun sind die Zeiten der Generation von Roger Milla endgültig vorbei, das Land mit seinen gerade mal neun Millionen Einwohnern hat einfach nicht das Potential, ständig in der Weltspitze mitspielen. Mehr schlecht als recht quälten sich die in jüngster Vergangenheit eher zahnlosen als unbezähmbaren Löwen durch die Qualifikation gegen Gegner wie Togo, Angola und Simbabwe. Und beim Afrika-Cup im Februar kam nach enttäuschenden Auftritten das frühe Aus schon im Viertelfinale gegen die direkt aus den Bürgerkriegswirren angereiste Elf aus Kongo. Sollte Kamerun die Vorrunde gegen Österreich, Italien und Chile überstehen, wäre das eine Überraschung.

Andere Probleme hat Bora Milutinovic. "Wir können mit Sicherheit sagen, daß Nigeria das momentan beste afrikanische Team ist", behauptet zwar nicht nur George Weah. Gezeigt haben die Stars des Olympiasiegers von 1996 ihre Klasse in den letzten Testspielen vor der WM aber nicht. Nach dem 1:5 bei der WM-Generalprobe gegen die Niederlande, der vierten Niederlage in Folge, wurde schon über einen Rausschmiß von Trainer Milutinovic fünf Tage vor dem WM-Auftakt der "Super Eagles" gegen Spanien spekuliert.

"Wir sparen unsere Kräfte für die Weltmeisterschaft", witzelte Jay-Jay Okocha, ehemaliger Mittelfeldspieler der Frankfurter Eintracht, nach der Pleite. Vielleicht hat er ja nun recht. Sunday Oliseh dagegen, früher beim 1. FC Köln und nun bei Ajax Amsterdam unter Vertrag, war schockiert: "Es war erschreckend, wie wir gespielt haben." Sein Siegtor gegen Spanien wird auch seine Meinung ändern.

Das ganze Land hatte auf frischen Wind durch die Verpflichtung von Milutinovic gehofft. Aber auch der Serbe scheint machtlos dagegen zu sein, daß die Bedeutung des Nationalteams für seine Schützlinge abnimmt. Kein einziger (!) aus dem nigerianischen Kader spielt noch in der Heimat, 20 der 22 WM-Fahrer haben hochdotierte Verträge in Europa. So fehlt die Motivation, durch überragende Leistungen bei der WM ans große Geld zu kommen.

Die ist zwar auch bei den Südafrikanern nur bedingt gegeben, aber die junge Republik verfügt über einen bemerkenswerten Nationalstolz. Ganz im Süden des Kontinents herrscht ein bißchen US-amerikanische Mentalität. Die "Bafana Bafana", 1994 bei ihrer ersten Teilnahme an einem großen Turnier auf Anhieb Afrikameister und im Februar in Burkina Faso erst im Finale von Ägypten an der Titelverteidigung gehindert, besteht aus 22 "Crazy Boys", die für jede Party zu haben sind, aber im entscheidenden Moment auch Siegermentalität zeigen. Vieles wird darauf ankommen, ob es Trainer Philippe Troussier, der in Afrika seit neun Jahren von Erfolg zu Erfolg eilt, gelang, in den drei Monaten seit seinem Amtsantritt im März die taktischen Defizite halbwegs auszumerzen.